Betrogen

 

Rockport, den 30. Mai 2015

 

Nazis. Das waren immer Männer. In allen Geschichtsbüchern waren es Männer. Einer davon mein Vater.

Aber doch nicht meine Mutter.

Jüdisch-bolschewistische Blutsauger.

Das sind ihre Worte. Die Worte der Margot Winkler.

Der hündisch-unterwürfige Blick der Ostarbeiterinnen.

So steht es in ihrer regelmäßigen Handschrift in ihrem Kriegstagebuch.

 

Es hätte alles so sein können wie immer. Mutter hätte bei meiner Ankunft gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd, ich hätte sie umarmt und wir hätten im Aufenthaltsraum ihres Pflegeheims gesessen und hätten uns angelächelt. Sie hätte gefragt: „Wie geht’s deinen beiden?“ und trotz ihrer nach dem Schlaganfall im letzten Herbst völlig entstellten Sprache, hätte ich sie verstanden. Schließlich stellte sie mir diese Frage seit … seit immer schon, seit ich nach Amerika gegangen bin, damals, blutjung, mit nicht einmal zwanzig Jahren.

 

Doch ich war blöd. Ich lief vor der Abreise noch schnell den Driveway hinunter zum Briefkasten – Koffer, Handtasche und Mantel abreisebereit im Hausflur. Was hatte ich erwartet? Werbung, die ich nur in den Abfall geworfen hätte? Eine Rechnung, die ich, so kurz bevor das Taxi zum Flughafen zu erwarten war, nicht bezahlt hätte? Vielleicht die ein oder andere Geburtstagskarte. Stattdessen lag da der wattierte Umschlag aus Deutschland mit Adresse und Absender in Gudruns Handschrift und dem Aufkleber für den Zoll, der den Inhalt in Englisch verkündete: Private War Diary.

   Ich fröstelte draußen am Briefkasten, trotz des sonnigen, lauen Mai-Nachmittags, dem ersten ohne Regen. Sicher, meine Schwester hatte mir das Tagebuch am Telefon angekündigt. Aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es in weniger als einer Woche ankommen würde. Immer dauert die Post aus Deutschland mindestens zehn Tage, wenn nicht drei, vier Wochen. Manchmal noch länger. Damit hatte ich nicht nur gerechnet, das hatte ich geplant. Ich wollte, dass es ankommt, während ich in Deutschland war. Statt das Ding verschlossen ins Haus zu tragen und wegzulegen, riss ich auf der Stelle den Umschlag auf. Die graue Pappmaschee-Füllung quoll hervor und segelte schwer wie Nebelwolken auf Toms perfekt gepflegten englischen Rasen.

Da war es. Das Tagebuch.

Wie in Zeitlupe bewegte ich mich auf das Haus zurück und ließ mich im Family Room auf die Couch sacken, klappte es auf und begann ich zu lesen.

Liebesbeschwörungen für ihr Ungeborenes. So hatte es Gudrun am Telefon angekündigt: „Ihre Liebe zu dir durchdringt jede Seite ihres Kriegstagebuchs.“ Doch mit keinem Wort hatte meine Schwester den Filz und Dreck erwähnt.

Beim ersten dieser Sätze erstarrte ich. Wäre ich bloß in dieser Starre geblieben. Dort auf der Couch. Hätte ich doch bloß nie zu lesen begonnen. Ich hätte nichts gewusst und Mutter hätte nie gemerkt, dass ich ihre Heiligtuerei durchschaut hatte. Stattdessen las ich weiter. Meine Augen rasten durch ihre Zeilen in Erwartung und Angst vor der nächsten Wahrheit.

 

Sie hatte mich betrogen. Jawohl. Betrogen. Mein Leben lang hatte sie so getan, als habe sie mit der Geschichte nichts zu tun gehabt. Das Morden fand um sie herum statt, ohne sie.

Wie konnte das passieren, dass ich ihr all die Jahre glaubte? Dass ich sie all diese Jahre hochhielt, bewunderte, wie eine Heldin, auf die ich bauen konnte – und sie auf mich. Diese Frau wollte ich nie wiedersehen.

 

Vor der weit offenstehenden Haustür hupte es.

Das Taxi.

Wie von Fäden gezogen erhob ich mich, nahm meine Handtasche, legte den Mantel über den Arm, schob den Koffer vor mir her aus der Tür hinaus und ins Taxi.