Frau Blumenthals Armreif (Exzerpt)

 

Freitag, 8. Mai 2015

Ich fühle den abgewetzten, von den Jahren verfilzten und speckigen Bezug des Sofas unter meiner Hand. Am Knie bäumt sich der Stoff meiner Hose wulstig auf und die Haut an meinem Bauch juckt. Mit geschlossenen Lidern spüre ich die Finsternis um mich herum. Ich öffne die Augen und suche in der Dunkelheit nach vertrauten Konturen.

„Hallo?“, frage ich in die Stille.

Im Warten auf eine Antwort, auf irgendeinen erkennbaren Laut nehmen Bruchstücke meiner Wirklichkeit im Bewusstsein Gestalt an: dies ist Mutters Sofa in Mutters Wohnzimmer. Ich liege hier allein; Mutter liegt in ihrem Zimmer im Pflegeheim, allein. Ich besuchte sie gleich nach meiner Ankunft am Frankfurter Flughafen. War das gestern?

Die Leuchtziffern auf meinem Handy verraten: Beinah Mitternacht. Der Jet Lag nach dem Nachtflug muss bewirkt haben, dass ich hier auf dem Sofa eingeschlafen bin.

Eben noch in lähmender Orientierungslosigkeit bin ich nun hellwach. Mitternacht hier in Deutschland bedeutet sechs Uhr abends zuhause in Boston. Zuhause. Das Wort verursacht einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Ich schlucke. Langsam richte ich mich auf und taste nach einem Schalter unter dem Schirm der Stehlampe. Ich knipse sie an und erhalte einen schwachen, aber warmen Lichtkegel unter einer Haube aus gekräuseltem Seidenstoff mit blumiger Samtbordüre. Vor mir ein ovaler Sofatisch. Darauf tummeln sich nicht wie gewohnt diverse Erzeugnisse der Klatschpresse, stattdessen präsentiert sich Mutters Häkeldeckchen in all seiner kitschigen Pracht. Gegenüber an der Wand zur Küche Regale voller Nippes. Tonfiguren, kleine Vasen mit Plastikblumen, Schächtelchen, hier und da auch ein Buch. Ich stehe auf, recke und strecke meine vom langen Flug und dem Sitzen bei Mutter im Pflegeheim steifen Glieder und tue ein paar Schritte in Richtung Flur. Die Stille lässt mich innehalten. Kein Geräusch von der Straße, kein Lebenszeichen aus den Wohnungen neben und über mir. Nur mein eigener Atem. Und der Geruch. Alte-Leute-Geruch. Der kann nicht von Mutter stammen. Sie hat seit dem Schlaganfall vor fast zwei Monaten keinen Schritt in ihren eigenen vier Wänden getan.

Da stehe ich, in ihrer grabesstillen Wohnung und fühle mich wie ein Eindringling. Ich gehöre hier nicht hin. Nicht ohne Mutter. Niemals zuvor bin ich hier allein gewesen. Immer buchte ich für die Zeit meines Aufenthalts ein Hotelzimmer in der Stadt und besuchte sie nur stundenweise. Nie wieder wird sie hier her zurückkehren und auf Geheiß meiner Schwester soll ich nun ihre Wohnung auflösen.

Auflösen.

Meine Augenlider zucken. Ich trete zur Tür und schalte das Deckenlicht an. Zuviel Auflösung in meinem Leben, denke ich, verbanne umgehend diesen Gedanken, und gehe auf den Esstisch auf der anderen Seite des Raums zu. Der vertraute Esstisch aus der Albert-Alt-Straße, den die Pfänder ihr überlassen haben. Ich streiche über das Holz der Tischplatte. Hier haben unzählige Familienmahlzeiten stattgefunden. Ich zupfe am Tischläufer aus – schwer zu sagen – Seide oder Polyesterspitze, ein geschmackvolles Teil in diesem Sechziger-Jahre-Museum, und versichere mir mit dem Finger auf der Blumentopferde, dass ihre Monstera Deliciosa gut versorgt ist. Auch die durfte sie nach Vaters Tod behalten – ein weiterer Gnadenerlass der Pfänder. Ich beende meinen Rundgang vor dem Bücherregal mit den Schinken aus alten Zeiten: Regina auf den Stufen habe ich selbst als junges Mädchen verschlungen, Das Tal der Puppen verbot Vater mir, und die hassgetränkten Machwerke von Konsalik, in denen schon der Klappentext verrät, dass es vorzugsweise um sadistische Quälereien geht, vorzugsweise ausgeführt von sogenannten Flintenweibern der Roten Armee, auf die verzichtete ich freiwillig. Zwischen all diesen Werken das schmutzige Orangebraun eines wattierten Umschlags. Als handele es sich um einen Buchrücken steht hochkant in großen Druckbuchstaben mein Vorname darauf.

Ich ziehe den Umschlag heraus. Auf der Vorderseite in Mutters Handschrift mein voller Name, Rita Barbara Everitt, und meine amerikanische Adresse. Hat sie mir die Post zusenden wollen und der Schlaganfall ist ihr dazwischengekommen? Oder will sie mir den Inhalt bei meinem nächsten Besuch übergeben? Ich drehe das Ding hin und her. Der Inhalt fühlt sich wie ein dickes Buch an. Ich will den Umschlag öffnen, zögere jedoch. Ich sollte ihn, verschlossen wie er ist, morgen mit ins Pflegeheim nehmen und sie fragen, was es damit auf sich hat. Nein, das macht keinen Sinn. Seit dem Schlaganfall – ich habe es gestern selbst erlebt – bringt sie lediglich Gurgelgeräusche hervor. Und wer weiß, wie es um ihr Erinnerungsvermögen steht.

Ich reiße den Umschlag auf. Die Füllung aus Pappmaché segelt in dichten Nebelwolken auf Mutters braunen Teppich. Ich greife hinein, erfühle eine flache Schachtel und ein paar Bücher. Ich ziehe das erste heraus. Es ist eine Kladde in einen blau-weiß karierten Umschlag eingefasst. Unwillkürlich liebkost meine Hand den Baumwollstoff, mein Zeigefinger ertastet die von roten Kreuzstichen umsäumten Ränder. Die Kladde riecht nach Holzspänen, Leim und einer Zeit, die nicht die meine ist. Ich schlage sie auf.  

Mein Tagebuch steht in blauer Tinte auf der ersten Seite. Begonnen Neujahr 1945.

Die Rührung in mir wärmt bis in die Finger- und Fußspitzen. Das hat sie 1945 geschrieben. Vor siebzig Jahren. Schon verwandelt sich die Rührung in Schwere. Mit der Kladde in der einen, dem Umschlag in der anderen Hand, gehe ich die wenigen Schritte zurück zum Sofa, wo ich mich mit einem Seufzer auf die schlaffen, altersschwachen Polster plumpsen lasse. Will ich wirklich wissen, was meine Mutter ihrem Tagebuch anvertraut hat? Und das vor siebzig Jahren? Ein unbestimmbares Zuviel lässt mich zögern. Ein Zuviel des Guten, ein Zuviel von Nähe, Intimität, Liebe, ein Zuviel von, von … Während mein Kopf noch zögert, blättern meine Finger bereits weiter und landen auf der dritten Seite.

Für heute will ich schließen, mein lieber Mann. Es tat gut, mit dir zu sprechen. Eigentlich finde ich Tagebücher kleinmädchenhaft und darum mir nicht angemessen.

Mein lieber Mann – dass ich nicht lache. Mein Vater war alles andere als ein lieber Mann.

Eigentlich – typisch Mutter. Eigentlich ist eines ihrer meistgebrauchten Worte.

Ungeduldig blättere ich weiter. So viele Seiten. So dicht beschrieben. In so regelmäßiger Handschrift. Da ist nichts durchgestrichen, da verdunkeln keine Tintenklekse die ergrauten Seiten. Wer kann so saubere Sätze verfassen? Ich nicht.

Ich stocke, blättere zurück. Was habe ich da gerade gelesen?

Da, da ist es.

Der hündisch-unterwürfige Blick der Ostarbeiterinnen.

Wie? Meine Mutter hat diese Worte geschrieben?

Ich lese sie erneut.

Der hündisch-unterwürfige Blick der Ostarbeiterinnen.

Ich blättere weiter.

Und dies hier:

Jüdisch-bolschewistische Blutsauger.

Ich lese die Sätze davor, lese die folgenden Sätze. Nein, Mutter hat nicht einen anderen zitiert. Es sind ihre Worte.

Das kann nicht sein. Nicht Mutter. Sie ist doch kein Nazi gewesen.

Nazis. Das waren immer Männer. In allen Geschichtsbüchern waren es Männer. Einer davon mein Vater.

Aber doch nicht meine Mutter.

Der Nazi.

Anders herum geht es nicht. Es gibt keine die Nazi.

Die Nazisse?

Ist das ein deutsches Wort? Nach fünfzig Jahren Leben in den USA bin ich mir, wie so oft, meiner Muttersprache nicht sicher.

Ich werfe das Tagebuch von mir fort und auf den Sofatisch, als klebe Gift daran, dass bei längerer Berührung an mir haften bleiben könnte, dass durch meine Haut in meine Blutbahnen gelangen könnte.

Ich springe auf, laufe in die Küche und reiße den Kühlschrank auf. Mit einem Blick erkenne ich, wie gut meine Schwester für mich gesorgt hat. Ein Karton Milch, Toasties, wie English Muffins in Deutschland heißen, Butter, und ganz viel Aufschnitt – Zutaten für ein typisch deutsches Abendbrot. Sogar eine Flasche Sancerre, mein Lieblingswein. Eilig stelle ich alles Essbare, Geschirr, Besteck und den Wein auf ein Tablett und mache mich am Esszimmertisch wie ein hungriger Teenager darüber her. Dinner time in Boston. Zuhause säße ich jetzt auch allein am Tisch, allein in diesem riesigen Klotz von einem Haus. Und während meine Schwester, die Tüchtige, in kürzester Zeit Mutters Angelegenheiten geregelt hat, und das Unmögliche ermöglicht hat – einen Platz im Pflegeheim – habe ich, die Untüchtige, mich meiner Fassungslosigkeit darüber, dass mein Mann mich von einem auf den anderen Tag, nach fünfzig Jahren Ehe, verlassen hat, widerstandslos hingegeben. Einfach abgehauen ist er. Einfach fort. Einfach zu kompliziert, um es Gudrun zu erklären.

„Bist du sicher?“, fragte Gudrun am Telefon. „Das bedeutet, du kommst an deinem siebzigsten Geburtstag hier an.“

„Bestens“, antwortete ich, packte in Windeseile und verließ fluchtartig unser riesiges, leeres, einsames Haus. Immerhin. Hierher habe ich es geschafft. Gudrun kann getrost mit ihrem Mann Urlaub machen.